Präsentation einer Leiche

Kein Mensch hat später rekonstruieren können, wer eigentlich diese merkwürdige Ankunft des Lufthansa-Fluges direkt aus Miami nachmittags um 15.15 Uhr auf dem Flughafen Frankfurt/Main arrangiert hat.

Tatsache ist, dass die Maschine etwa acht Minuten vor der Zeit reinkam, sofort Landeerlaubnis erhielt, auf der Landebahn 2 bis zum Ende rollte, dann drehte, die Gateway 18 nahm und aus unerfindlichen Gründen plötzlich stoppte. Der Tower, der sonst alles auf Band festhält, hat darüber keine Aufzeichnung.

Tatsache ist auch, dass entgegen jeder Gepflogenheit ein Schlepper mit einer Treppe heranfuhr und dass ein einziger Passagier, nämlich die vierundzwanzigjährige Angela Pedrazzini, das Flugzeug vorzeitig verließ, am Fuß der Treppe in ein Follow-me-Auto stieg und direkt zu einem zweistrahligen privaten Düsenflugzeug mit italienischer Kennung gebracht wurde. Sie bestieg die Düsenmaschine, die bereits Starterlaubnis hatte und zwei Minuten später schon in der Luft war.

Dieser Vorgang konnte unter anderem deshalb nicht rekonstruiert werden, weil niemand ernstlich daran interessiert war, es zu tun. Mögliche Zeugen hielten sich zurück, sie fürchteten um ihren Arbeitsplatz.

Selbst als ein gewitzter Pressemann einige Vermutungen anstellte, selbst als er sehr aggressiv äußerte, das wäre wohl die Privatmaschine des italienischen Industriellen Pedrazzini gewesen, wurde ihm geantwortet, das wäre durchaus möglich. Ob er denn auch wüsste, dass in dieser Maschine nicht selten staatliche Kurierpost und Mitglieder des italienischen diplomatischen Korps befördert würden.

Aufmüpfig trumpfte der Pressemensch auf, ihm lägen Aussagen vor, die eindeutig besagten, dass die Enkelin von Pedrazzini namens Angela die Linienmaschine aus Miami verlassen und den privaten Düsenjet des Opas bestiegen hätte. Und ebendiese Angela – ha! – wäre identisch mit jener, die von Mitgliedern eines amerikanischen Geheimdienstes in Bogotá festgehalten und auf unglaublich tollkühne Weise von zwei noch nicht identifizierten Deutschen befreit worden wäre.

Die Antwort des Pressesprechers der Flughafen AG war verhalten: »Guter Mann, ich weiß nicht, woher Sie diese verrückte Geschichte haben. Hatten Sie in letzter Zeit Kontakt zu Ihrem Therapeuten?«

Grau und Milan waren heilfroh, die quengelige Blonde los zu sein, wenngleich in den letzten beiden Stunden diese Angela sehr still und in sich versunken nur noch geweint hatte. Einmal hatte sie geseufzt, der Amerikaner namens Luke wäre eine menschliche Sau gewesen. Nichts anderes im Hirn, als dauernd eine Geisel zu bespringen, die sich ohnehin nicht wehren konnte.

Milan hatte zu alldem nur verhalten väterlich gegrinst, während Grau sich gezwungen hatte, nicht hinzuhören, dabei aber umso intensiver unter ihrer kindlichen Hilflosigkeit gelitten hatte.

In der Flughafenhalle stand breit grinsend Geronimo und empfing sie mit offenen Armen. Er benahm sich, als seien die Männer jahrelang fort gewesen. »Leute!«, schrie er, als gelte es, dreihundert Meter zu überbrücken. »Leute! Einen Orden für euch!«

Er knutschte erst Grau ab und dann Milan, wobei er ihnen schmatzende Küsse auf die Wangen drückte und ihnen dermaßen herzlich auf die Schulter klopfte, dass Grau noch stundenlang ein taubes Gefühl mit sich herumtrug.

»Einsteigen, und ab geht’s nach Berlin!«, verkündete Geronimo. »Auf euch wartet noch jede Menge Knutscherei.«

»Meine Frau ist mir lieber«, sagte Milan einfach. Dann richtete er sich bequem auf der Rückbank ein und schloss die Augen.

»Er ist ein Krieger, er nutzt die Gefechtspausen«, erklärte Grau. »Wie geht es Sundern?«

»Der wartet auf Davidoff und Gretzki«, sagte Geronimo.

»Kann er mit denen verhandeln?«

Geronimo grinste. »Natürlich werden sie sich treffen. Sie werden mit Sundern sprechen, sehr höflich, dann werden sie sich umsehen, ob nicht die Möglichkeit besteht, Sundern ein bisschen unter Druck zu setzen. Ihr Blick wird …«

»… auf Meike fallen«, vollendete Grau. »Das meinst du doch. Das hatten wir schon. Ich sollte mich von Sundern anstellen lassen. Bis zur Rente Frauen aus der Scheiße holen. Wenn Sundern sagt, er hat weder den Stoff noch die Moneten, dann müssten sie ihm das doch glauben.«

»Das werden sie nicht, solange das Gerücht umgeht, Sundern hätte das ganze Zeug. Also müssen wir es suchen.«

»Und wenn wir es haben?«

»Ich weiß es nicht.« Geronimo grinste wieder. »Vielleicht versteigern?« Er lachte schallend und schlug sich klatschend auf sein Knie. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht, was das alles soll, ich kann Drogen nicht leiden.«

»Wie bitte?« Grau war erheitert. »Dein Verein hat doch damit zu tun.«

Geronimo war augenblicklich ernst, fast verbissen. »Haben wir nicht, Grau, haben wir nicht. Mehmet macht ein Restaurant, Mehmet macht Stände auf Märkten. Mehmet macht mit vielen Lastern Logistik, überall in Europa. Aber keine Drogen, verdammt noch mal! Und ich bin sein Angestellter. Ordentlich mit Sozialabgaben.

Ich habe fünf Kinder, Grau, und ich liebe sie. Wenn sie Haschisch rauchen, bin ich sehr betrübt. Sundern? Hat auch nichts damit zu tun.« Er war so erregt, dass er den Wagen mit über zweihundert Stundenkilometern vorwärtstrieb.

»Ich möchte gerne weiterleben«, sagte Grau mit trockenem Hals. »Ich werde Sundern fragen.«

»Das musst du auch, das musst du wirklich. Weißt du, ich glaube, Sundern hat als Einziger begriffen, was hier läuft. Mehmet auch, aber Mehmet hat Angst, es zu sagen. Du musst dich ausruhen, du musst zu Meike gehen und Liebe machen und ein bisschen vergessen.«

»So ein Scheiß!«, fluchte Grau. »Ich werde gewalttätig für einen Haufen Leute, die ich nicht kenne und die mir dauernd sagen, sie seien Ehrenmänner. Ehrenmänner, die von Bullen gejagt werden und mit anderen Ehrenmännern Krieg führen.«

»Dann musst du nach Hause gehen«, sagte Geronimo. Er lächelte. »Aber das geht auch nicht, nicht wahr?«

»Woher kommst du eigentlich? Was bist du denn für ein Landsmann?«

»Ich bin der ganze Balkan«, sagte Geronimo weich und mit sehr viel Liebe in der Stimme. »Der ganze Balkan und der ganze Nahe Osten. Ich habe in Istanbul gelebt, in Tel Aviv, und jetzt in Berlin.«

Grau nickte erst vor Göttingen ein. Er schlief unruhig, und einmal trat er heftig gegen Geronimos Knie. Er träumte, er wäre auf der Suche nach Eichhörnchen. Er bewegte sich in einem Haus, das nach oben hin grenzenlos in milchig-aggressivem Nebel versank. Er ging in laut hallenden Räumen enge Gänge entlang, die links und rechts mit dreckigen, stinkenden grauen Decken behängt waren.

Er kämpfte sich durch Wolken von Spinnweben, und zuweilen blendete ihn in der Ferne ein blaues blitzendes Licht. Es sah so aus, als trüge jemand eine Laterne. Er ging barfuß, bekleidet mit Hosen, deren Beine dicht unterhalb der Knie in Fetzen endeten. Er zog eine Spur durch Schlamm, aus dem blaue Dämpfe aufstiegen und in dem irgendwelche Tiere quiekten. Ratten, dachte er. Er entdeckte auch sehr große weiße Würmer, so lang wie seine Füße.

Er begriff, dass hinter den dreckigen Decken links und rechts Kojen waren, Kojen, eng übereinander, eng nebeneinander. In jeder Koje lag ein Mensch. Als er begriff, dass jeder dieser Menschen Eichhörnchen war, wollte er mit Gewalt wach werden, weg aus diesem entsetzlichen Gemäuer.

»Du hast geschrien«, erzählte Milan ihm. »Warst du wieder in Bogotá?«

»Nein«, sagte Grau verbissen. Er stopfte sich eine Pfeife und forderte dann unvermittelt: »Halt bitte mal an, Geronimo. Ich brauche Zigaretten.«

»Das ist nicht gut«, sagte Milan.

»Fahr weiter, Geronimo. Er hat recht. Nein, verdammt noch mal, halt an.«

Geronimo hielt an der nächsten Raststätte, aber Grau verzichtete auf die Zigaretten. »Ich möchte mich besaufen«, sagte er.

»Das bringt es nicht«, sagte Milan. »Ich kenne das, du bist erschöpft. Die Seele ist kaputt.«

»Psychoscheiß«, erwiderte Grau wütend. Zehn Kilometer weiter sagte er: »Weißt du, ich habe nie begriffen, dass Eichhörnchens Hilflosigkeit eigentlich meine eigene war.«

»Eichhörnchen war seine Tochter«, erklärte Milan.

»Ich habe davon gehört«, murmelte Geronimo. »Die Menschen sagen, mit so was musst du leben. Das funktioniert aber nicht.«

»Jedenfalls nicht gut«, sagte Grau.

Als sie die Außenbezirke Berlins erreichten, war es Abend. Geronimo erklärte, der Clan hätte sich zusammengetan und in Mehmets Burg Wohnung genommen. Grau fiel auf, dass Geronimo keine Hauptstraße benutzte, sich durch Nebenstraßen quetschte, Industrieansiedlungen bevorzugte, zuweilen sogar durch Kleingartenanlagen fuhr.

In der Straße, in der Mehmets Lokal lag, herrschte der übliche Betrieb, aber die Gruppe der scheinbar gelangweilt herumstehenden jungen Männer hatte sich eindeutig vergrößert, sie gestikulierten heftig und ließen die Augen unstet umherwandern. Auffallend viele parkende Fahrzeuge waren mit einem Fahrer und einem Beifahrer besetzt. Alle diese Tandems wirkten schweigsam und bedrohlich.

»Hat Mehmet seine ganze Armee aufgeboten?«

Geronimo nickte. »Sogar die Reservisten. Irgendetwas passiert, aber wir wissen nicht, was.«

»Ist von dem Kokain etwas aufgetaucht?«

»Nicht die Spur. Wir haben Testkäufe machen lassen. Dresden, Frankfurt, Hamburg, München. Der Stoff ist nicht im Umlauf, kein Milligramm davon.«

»Von dem Geld was gesehen?«

»Dollar? Keine Bank sagt, dass bei ihr größere Summen eingewechselt worden sind. Nichts, vom Winde verweht!«

Geronimo rauschte in den Innenhof. Vor einer Gruppe von Müllcontainern standen zwei Männer, sie fuhren sichtlich erschreckt herum.

»Schon gut«, beruhigte Geronimo. »Keine Aufregung.« Zu Grau sagte er: »Es ist wie vor einem Gewitter, weißt du.«

Dann war es einige Sekunden lang sehr still. Grau hatte das beklemmende Gefühl, die Welt hörte auf zu existieren und irgendetwas in ihm zerspränge.

»Wo ist Meike?«, fragte er atemlos.

»Penthouse. Das Zimmer, in dem du schon mal geschlafen hast. Aber Sundern wird dich sprechen wollen.«

»Sag Sundern, das hat Zeit.«

»Dir ist nicht gut, nicht wahr?« Milan fragte eher beiläufig.

»Mir ist wirklich nicht gut.«

Geronimo brachte ihn im Lift hinauf. Meike saß in einem Sessel. Sie tat nichts, sie sah ihm nur einfach entgegen und war unsicher. Sie sagte: »Hallo, Grau.« Es war mehr eine Frage.

Er blieb stehen und spürte, wie Geronimo hinter ihm die Tür zudrückte. »Es tut unheimlich gut, dich zu sehen«, sagte er ohne Atem.

»War es schlimm?«, fragte sie und bewegte sich nicht.

»Da gab es Dinge, die hätten passieren können. Ich glaube, davor hatte ich am meisten Angst. Es ging aber glatt, sogar unheimlich glatt. Das Mädchen ist ein neurotisches Biest.« Er blieb stehen, einen Meter von der geschlossenen Tür entfernt. »Ist hier etwas Besonderes passiert?«

»Nichts. Außer dass Sundern ständig mit Pedra telefoniert. Erst im Flugzeug, dann zu Hause, wie ein Verrückter. Er telefoniert immer noch. Habt ihr überhaupt geschlafen?«

»Haben wir.« Er bewegte sich auf den Sessel neben ihr zu. »Ist Milans Sigrid auch hier?«

»Na sicher, Grau, ich weiß auch nicht, ich bin irgendwie aufgeregt. Jemand hat mal gesagt, man müsste die ersten zehn Sekunden durchstehen, nichts sagen, einfach nichts sagen. Hast du an mich gedacht?«

»Ich dachte, die ersten zehn Sekunden nichts sagen?« Er lächelte. »Ich habe darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, wenn du bei Sundern total aussteigst. Angeblich hängst du doch in einigen seiner Firmen mit drin.«

»Aber warum denn? Es sind gute Firmen und ich bekomme ein Gehalt. Ach, Grau, kann ich dich vorsichtig berühren?«

»Ja«, nickte er. »Ich habe im Flugzeug darüber nachgedacht, wie das wäre. Auf dem Hinflug schon.«

»Nicht reden«, sagte sie. Sie berührte mit einem Finger seine Lippen und streichelte dann sein Gesicht. »Ich habe so Angst gehabt, dass du mich nicht mehr erkennst. Dass wir Fremde sind.«

»Sind wir aber nicht«, sagte Grau heiser.

»Ich brauche deine Hände, Grau. Wir sind keine Fremden, nicht wahr? Könntest du mich ausziehen, wenn ich dich ausziehe?«

»Ich hätte dieses Mädchen fast geschlagen. Sie dachte, es sei der Himmel auf Erden, alle Drogen zu kriegen und dann noch vom Chef gevögelt zu werden. Sie dachte das wirklich.«

»Es war sicher wegen deiner Tochter …«

»Ja klar. Ich dachte die ganze Zeit: Eichhörnchen wäre nicht gestorben, wenn ich vorher in ihre Welt eingetaucht wäre. Vorher, verstehst du, vorher!«

Plötzlich war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei und er weinte und fluchte und weinte. Sie wischte die Tränen aus seinem Gesicht und sagte fortwährend leise: »Weine nur, Liebling, ich halte dich fest.«

Es war schon dunkel, als Sundern per Telefon höflich anfragte, ob Grau zu einem Gespräch bereit wäre, sie könnten sich in Mehmets Wohnzimmer im Penthouse treffen.

Als er ankam, sagte Sundern: »Ich habe ein Fax von Pedra für dich.« Sundern grinste ziemlich verschwörerisch. Ansonsten war er blass und grau im Gesicht.

»Nicht doch«, sagte Grau abwesend. Er nahm das Fax, las es aber nicht.

»Pedra meint, du sollst wissen, dass er immer für dich da ist. Er sagt weiter, dass ich dir ein Konto bei der Bank deiner Wahl einrichten soll.«

»Und ich kriege die Hand der Prinzessin und das ganze Land«, sagte Grau.

»So ungefähr. Eine Million Dollar.«

»Will ich aber nicht.« Grau schüttelte störrisch den Kopf.

»Na gut, du kannst das ja später noch entscheiden. Ich will erst mal deine Meinung zu der Frage hören, was wir wissen, was wir nicht wissen und wie wir möglicherweise auf Bedrohungen reagieren können.«

Grau war erstaunt. »Ich bin neutral, verdammt noch mal.« Sundern lächelte. »Der Rest der Welt sieht das durchaus anders. Egal, also: Wo stehen wir?«

»Mich interessiert nur noch dieser gottverdammte White. Und sein Dackel, dieser Thelen. Die haben mich beschissen, aber sie haben mich auch bezahlt. Jetzt wissen wir, dass Pedra die Leiche von Steeben hat, also kann ich kassieren und aussteigen.«

»Ich dachte, du hilfst mir«, krächzte Sundern, ohne Vorwurf in der Stimme.

»Sicher helfe ich dir. Aber wobei? Gegen diese Mafia-Typen aus Polen und Moskau? Junge, ich habe doch keine Ahnung, wie soll ich dir da helfen?«

»Nachdenken«, sagte Sundern. »Nur nachdenken. Was wissen wir eigentlich?«

»Wir wissen, dass White mich beschissen hat. Tatsächlich gibt es gar kein großartiges Komplott mit einem Kokainschläfer in Berlin. Tatsächlich ist das ganze Ding von White und Thelen geplant worden. Tatsächlich wurde Pedra in die Sache reingezogen, weil man ihn mit seiner Enkelin unter Druck gesetzt hat. Dreckige Erpressung. Tatsächlich wurde das ganze Ding von White und Thelen lanciert, damit sie hier anschließend als Bullenkönige der Drogenszene gefeiert werden. So viel wissen wir inzwischen.«

Sundern nickte.

»Sie ließen verlauten, da wäre jemand mit zehn Millionen Dollar in bar und fünfzig Pfund Kokain nach Berlin gereist. Sofort kamen die Oberdealer und ihre Handlanger aus den Löchern und wurden von der Polizei abgeschöpft. Verhaftungen, jede Menge Verhaftungen. Jetzt sind Gretzki aus Polen und Davidoff aus Moskau auf dem Weg hierher.

Es geht also weiter, und genau das haben White und Thelen gewollt. Aber haben sie auch gewollt, dass ihr kostbarer Steeben dabei zu Tode kommt? Ich tippe nein, denn damit war ihr schöner Lockvogel futsch. Sie haben nicht damit gerechnet, dass der alte Pedrazzini zur Notbremse greift und seinen eigenen Boten umbringen lässt. Pedra musste das tun, um …«

»Folglich sollten wir ihnen jetzt Steebens Leiche präsentieren.« Grau war völlig bei der Sache, er war aufgeregt, konzentrierte sich. »Wir müssen Druck machen, also müssen wir ihnen auch die Leiche zuspielen. White und Thelen müssen gezwungen werden … Moment mal, Sundern. Glaubst du denn, dass White und Thelen Dollars und Kokain wirklich haben?«

»Ich glaube schon, dass sie es haben. Und wir müssen versuchen herauszufinden, wie das Ganze im Hotel arrangiert worden ist. Wenn unsere Vermutungen stimmen, muss es im Hotel zwei Gruppen gegeben haben. Die eine hat das gesamte Diplomatengepäck übernommen, also auch Dollars und Kokain, die andere ist eindeutig vom alten Pedrazzini geschickt worden, um diesen redseligen Steeben aus der Welt zu schaffen. Steeben hat gewusst, dass Pedra erpresst wird. Er wusste auch, dass alles nur von White und Thelen in Szene gesetzt worden ist. Und plötzlich war er tot!«

»Hast du denn Pedra nicht gefragt?«

»Natürlich habe ich ihn gefragt, aber er hat mir keine klare Antwort gegeben. Er sagte, er habe sich an eine befreundete Berliner Familie gewandt, und die habe das Problem für ihn aus der Welt geschafft. Das heißt, diese Familie hat entweder eine Gruppe geschickt, um Steeben zu töten, oder aber nur einen einzigen Mann.

Wir werden nie herausfinden, wer es war. Egal: Steeben ist jedenfalls tot und irgendwer hat seine Leiche. Wenn Pedra will, wird sie freigegeben, dann kann sie gefunden werden.«

»Richtig, das sehe ich auch so. Wir sollten die Leiche von der ARD finden lassen.« Grau lächelte schmal.

»Wieso denn das?«

»Das macht den meisten Lärm«, antwortete Grau trocken. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass der Bundesnachrichtendienst und die amerikanische DEA so ein Ding drehen. Das ist doch total riskant.«

»Das ist überhaupt nicht riskant.« Sundern widersprach erregt. »Was haben wir denn hierzulande für eine Drogenpolitik? Eine, die nur auf ein Mittel setzt: Repression, Verfolgung und gnadenlose Bestrafung! Der Staat ist gut, der Dealer ein Schwein. Alles, was der Staat macht, ist vom Standpunkt der herrschenden Moral aus gut, selbst wenn es noch so fragwürdig und beschissen ist. Ich erinnere dich an das Schlagwort: War on drugs! Das ist eine Strategie, die die meisten Fachleute längst für falsch und vollkommen überholt halten. Aber die Masse Mensch findet das prima, obwohl man das Problem der Drogen damit überhaupt nicht in den Griff kriegt. Oder? Ist das nicht so?« Er war sehr erregt.

»Du bist ja ein Prediger!«, sagte Grau mit sanfter Verachtung.

»Quatsch!«, widersprach Sundern heftig. »Ich habe mich nur etwas schlau gemacht. Die USA führen diesen Krieg seit Jahrzehnten. Und die Deutschen haben diese Methoden mit allen Raffinessen übernommen. Ich erzähle dir jetzt mal eine Geschichte, Grau, damit du weißt, wie das in der Szene so läuft.

Da gab es einen Arbeitslosen in Köln. Er geriet mehr oder weniger durch Zufall an eine Gruppe von Jugoslawen, die systematisch Kurierfahrten für Drogenhändler arrangierte. Er übernahm ein paar Aufträge und galt als absolut zuverlässig. An den schmiss sich eines Tages eine junge, hübsche Frau ran. In ihren Papieren stand, dass sie wegen Drogenvergehen vorbestraft war. Sie sagte, sie hätte keine Bude und ob sie eine Weile bei ihm unterschlüpfen könnte.

Unser Mann, ich nenne ihn mal Herbert, sagte zu. Also wohnte die Frau jetzt bei ihm. Eines Tages erzählte sie ihm, sie hätte eine Gruppe amerikanischer Soldaten aufgetan, die gegen Bares fünfzehn Kilo Amphetamine kaufen wollten, also künstliches Speed. Herbert dachte darüber nach, aber er kannte keinen Hersteller. Woher sollte er so schnell fünfzehn Kilo kriegen?

Er schaltete einen Kumpel ein, von dem er annahm, der hätte einen heißen Tipp. Der aber wusste auch nichts. Sie wandten sich an Italiener, an Jugoslawen, an Türken, an Kurden. Niemand konnte ihnen fünfzehn Kilo Amphetamine liefern. Dann signalisierte Herbert nach gut zwei Wochen: Ich habe fünfzehn Kilogramm!

Er hatte nicht ein Gramm, nur schlichtes Bittersalz. Er wollte die GIs bescheißen. Am Übergabeort erschien er mitsamt dem Salz und wurde von einem Heer von Bullen überwältigt. Die angeblich vorbestrafte Frau war eine Polizistin. Außer Herbert war jeder Beteiligte an der ganzen Geschichte ein Polizist.

Eigentlich hatten die Bullen nur das Gerücht aufgeschnappt, dass irgendjemand im Kölner Raum Amphetamine herstellt. Also bauten sie eine nicht existierende Gruppe von Amis auf, die als Käufer herhalten mussten. Die Richter wussten genau, dass Herbert geködert worden war. Sie wussten auch genau, dass er seit Jahren arbeitslos und in einer sehr schlimmen psychischen Verfassung war, dass er als Arbeitsloser jede Menge Schulden hatte, die er auf normalem Wege niemals mehr loswerden würde.

Die Richter wussten also, dass Herbert überhaupt keine andere Chance gehabt hatte, als auf den Deal einzugehen. Sie wussten, dass er das Opfer war, und schickten ihn trotzdem gnadenlos in den Knast. In ihrer Urteilsbegründung stand, Herbert habe mit dem Bittersalz zwar seine Auftraggeber beschissen, aber wenn ihm Amphetamine zur Hand gewesen wären, hätte er sie skrupellos geliefert.

Hast du das kapiert? Wir müssen uns also fragen: Was ist eigentlich das Ziel von White und Thelen?«

»Noch ein paar Dealer mehr? Vielleicht diese Mafiatypen aus Polen und Russland, was weiß ich.«

Sundern lachte leise. »Quatsch, Grau, überleg doch mal.«

Grau wehrte sich matt. »Das ist nicht meine Welt.«

»Das hat doch damit gar nichts zu tun. Du verfügst über ein Hirn, also benutze es gefälligst!«

»Vielleicht wollen sie sich den künftigen Markt in den neuen deutschen Ländern unter den Nagel reißen.«

»Das auch. Aber was muss vorher passieren, damit man diesen Markt bekommt?«

»Sundern, du fragst wie ein beschissener Pauker.«

Sundern lächelte strahlend. »Na gut, du Neuling. Ich sage dir, wer das Ziel ist: Ich.«

Grau erschrak. »Wieso das? Das ist doch … du?«

Sundern nickte. »Erinnerst du dich, wie ich dir gesagt habe: Deine Ankunft in Berlin, der Auftrag von White, deine Bitte um ein Interview – das sieht alles danach aus, als wärst du von langer Hand an mich herangespielt? Der Gedanke hat mich seither nicht mehr losgelassen.

Sieh mal, ich habe noch nie im Leben etwas mit Drogen zu tun gehabt. Sicher, ich lebe in einem klassischen Milieu: Nachtklubs. Wie alle wissen, werden da Drogen gehandelt und anderes illegales Zeug, Waffen, weiß der Kuckuck was. Ich bin mächtig, nicht wahr? Ich kenne jede Menge Politiker. Manchem habe ich eine ganze Reihe Gefallen getan.

Es ist richtig, Grau: Sich mit mir offen anzulegen, ist sehr ungesund. Was sollte also jemand bedenken, der sich vollkommen neu in Berlin etablieren will? Er checkt ab: Wer muss vorher weg? Und er kommt zwangsläufig zu dem Schluss: Sundern muss weg! Er hat nämlich zu viel Einfluss, zu viel Macht, zu viel Geld. Sein politischer Einfluss ist gefährlich, weil seine Kontakte zu gut sind!

Leuchtet dir das ein, Grau? Selbstverständlich gehe ich den Fahndern der Bullen auf die Nerven, weil ich für deren Begriffe viel zu sauber bin, viel zu clean. Die sagen sich doch: ›Der hat Dreck am Stecken, lasst uns aufpassen!‹

Sieh das doch mal so: Wir alle hängen davon ab, was unsere Nachbarn und Kollegen von uns denken, oder? Wenn jetzt also einer über Sundern behauptet, dass der in diesem Riesendeal drinhängt, dann sagt jeder: Hab ich’s doch geahnt! Na klar: Der hat Bares, der hat Geld, der hat Einfluss, der hat Nutten, der hat Zuhälter an der Hand, der schmiert Parteien, der kann gut mit dem Senat. Der eine lässt sich auf Parteikosten die Haare föhnen, der andere, also in diesem Fall Sundern, reißt sich die gesamte Drogenszene unter den Nagel und kriegt dabei noch Hilfe von der Politik!«

»O ja, das leuchtet selbst mir ein. Am besten auch gleich noch Mehmet. Denn Mehmet hängt mit dir zusammen, nicht wahr? Es sind ja auch bald Wahlen.«

»Mehmet ist mein Freund. Was mich so verrückt macht, ist die Frage, warum ausgerechnet ich mit Drogen genagelt werden soll. Jeder Insider weiß doch: Sundern mag vielleicht ein Sauhund sein, aber mit Drogen hatte der noch nie etwas zu tun.

Diesen Ruf kann man schnell kaputtmachen, oder? Man braucht bloß zu behaupten: Jemand hat zehn Millionen Dollar und einen halben Zentner Koks nach Berlin reingebracht. Wir haben den berechtigten Verdacht, dass hinter diesem Deal Sundern steckt! Schon hat Sundern sämtliche Scheiße der Welt am Arsch.

Auf diese Tour bin ich auch zu kriegen. Denn, Grau, dagegen kann ich gar nichts machen. Verstehst du jetzt?«

Der Raum lang im Halbdunkel, durch zwei Wandschalen gelblich beleuchtet. Er war erlesen eingerichtet, teuer, schlicht, angenehm und schnörkellos. Die Mahagonimöbel waren sehr alt. Grau ging an die Bar auf Rädern und goss sich ein Mineralwasser ein.

»Nehmen wir einmal an, der Himmel ist das Limit. Was würdest du dir dann wünschen?«

Sundern bewegte sich unruhig in seinem Sessel hin und her. »Ich würde mir wünschen, dass irgendjemand hingeht und diesen White und diesen Thelen einfach totschlägt.« Er wollte noch etwas hinzufügen, schwieg dann aber.

»Das könnte doch eigentlich Pedra erledigen«, sagte Grau gleichmütig.

»Das wird er auch tun, wenn ich es will.« Sundern war plötzlich weiß im Gesicht.

»Und was arbeitest du nun wirklich?«

»Ich investiere, besser gesagt, ich reinvestiere. Ich lasse Gelder laufen und mache damit neues Geld. Ich kaufe Grundstücke und Häuser und verkaufe sie dann wieder.«

»Wäschst du Geld?«

»Das weiß ich nicht immer so genau. Für etwa neunzig Prozent kann ich sagen: Nein! Die übrigen zehn Prozent sind der Rest, wie ihn auch jede Bank am Bein hat. Jede, Grau. Die Deutsche Bank, die Dresdner Bank, die Commerzbank, die braven Sparkassen, die Volksbanken, die angeblich jeden Weg frei machen, und alle anderen.« Er lächelte.

»Ich erinnere mich da an einen Zeitungsartikel. Irgendwo im Ruhrgebiet hat die Staatsanwaltschaft bei einer kleinen Filialbank alle Konten genau unter die Lupe genommen. In nur zwei Stunden entdeckten sie fünf Millionen Mark Schwarzgelder. Das wurde gehandelt wie ein Skandal, und ich dachte nur: Die haben doch keine Ahnung, die Arschlöcher. Übrigens haben deine Kollegen auch keine Ahnung.«

»Man könnte also sagen, dass du hin und wieder Gelder wäschst?«

»Na sicher doch. Es wäre idiotisch, das abzustreiten. Mein Gott, Grau, in welcher Welt lebst du denn? Da kommt ein braver Schreinermeister daher, der seit zehn Jahren ein Schweinegeld verdient, und fragt mich, ob ich ein günstiges Haus für ihn weiß. Wahrscheinlich habe ich tatsächlich eins und kaufe es für ihn. Wenn es Schwarzgeld war, bin ich ein Krimineller. So einfach ist das.

Manche Kunden lehne ich ab, wenn ich weiß, dass sie ausschließlich Schwarzgeld schieben. Das ist doch der Wahnsinn in diesem kapitalistischen System, den jeder totschweigt. Die Regierung sagt: Jeder, der mehr als fünfundzwanzigtausend Mark bei einer Bank einzahlt, muss nachweisen, woher das Geld stammt. Dieser Nachweis, Grau, ist so lächerlich einfach zu stricken und zu schummeln, dass Fachleuten schlecht wird. Aber die Regierung erweckt immerhin den Eindruck, sie ginge forsch gegen organisierte Kriminalität vor.

Ein anderes Beispiel: Wenn ich Kriminalbeamten vom Wirtschaftsdezernat meine Bankunterlagen vorlegen würde, dann könnten die absolut nicht unterscheiden, welche Gelder legal und welche illegal sind. Wie denn auch? Aber wenn sie hören, dass ich mit zehn Millionen Dollar in bar und fünfzig Pfund Kokain in die Drogenszene einsteige, dann können sie von jeder Summe, die über meine Konten abgewickelt wird, behaupten, sie sei illegal. Der Mann auf der Straße würde das mit Wonne glauben – und jedes Gericht auch.«

Grau hockte auf der Kante des Sessels. »Also hat mir White deinen Namen genannt, mich an dich herangespielt, damit ich die Aufmerksamkeit aller anderen auf dich lenke?«

»Richtig. Es hat ja auch funktioniert.«

»Dann bist du erledigt, denn es wird genug Dreck am Stecken zurückbleiben. Du solltest dich lieber eine Weile verdünnisieren.«

Sundern sah ihn aufmerksam an. »Es ist ja nicht das Geld, Grau. Geld habe ich genug. Ich muss nicht mehr arbeiten, meine Kinder nicht und meine Enkel auch nicht. Aber mein Leben in Berlin geht dabei kaputt.«

»Das ist ekelhaft«, sagte Grau. »Aber gibst du denn wenigstens zu, dass du nicht nur harmlos bist, sondern auch eine Art Freibeuter?«

Sundern blickte vor sich hin, sah dann zu ihm hoch und grinste: »Mein Bundeskanzler mag Freibeuter. Wenn mein Banker in Newport auf den Bahamas mal zwei Tage keinen Anruf von mir bekommt, leidet er unter Entzug. Und der ist Kanadier und sehr sachlich.«

»Also gut: Ich kann aber Milan nicht dazu bringen, White umzulegen und Thelen zu ersäufen. Also, was sollen wir tun? Wie sieht denn dieser Drogenmarkt hier in Berlin genau aus?«

»Gute Frage. Ich bin in eine Buchhandlung gegangen und habe ein Sachbuch gekauft, den Welt-Drogenbericht, der nicht von irgendwelchen Regierungen manipuliert wird.

Also: Wir sind ein Drogenland – wir produzieren die wichtigsten chemischen Stoffe, die jemand braucht, um Kokain und Heroin herzustellen. Ein Schwachpunkt ist vor allem die Ex-DDR, weil dort Justiz und Polizei noch nicht nach westlichen Maßstäben funktionieren.

Das Heroin wird über die Balkanroute nach Europa geschmuggelt. Seit die sich in Exjugoslawien gegenseitig totschießen, können die Dealer den Stoff auch bequem über die Türkei, Rumänien, die Slowakei und Ungarn verschieben.

Monatlich treiben sie dieses Spielchen mit etwa zweihundert Kilo. Und weil es vor allem Türken sind, die das organisieren, können White und Thelen unseren Mehmet ganz leicht zu einem Hauptverdächtigen abstempeln.

Jetzt steigen auch zunehmend Russen und Kaukasier in das Geschäft ein. Angeblich operieren in der Ex-DDR schon dreihundert russische Gangs. Na ja, und du weißt ja, dass wir jeden Moment damit rechnen, dass dieser Davidoff hier aufkreuzt.

Das Kokain kommt per Schiff aus Panama und Kolumbien, manchmal wird das Pulver auch in polnischen Häfen oder irgendwo in Tschechien von den Fahndern entdeckt.

Weißt du denn, wie viele hierzulande Cannabis rauchen? Ich kann’s dir sagen: Sie schätzen, dass schlappe vier bis sieben Millionen in Deutschland kiffen.

Amphetamine werden zum größten Teil auch hier gekocht. Die Fahnder heben ein Labor nach dem anderen aus. Aber trotzdem kann unsere chemische Industrie in Europa völlig unbehelligt alles verscheuern, was man braucht, um Amphetamine herzustellen.

Diese künstlichen schweren Aufputscher kommen jetzt besonders billig aus Polen. Außerdem bekommen wir von dort die sogenannte polnische Suppe. Mohnstroh wird aufgekocht und als Heroinersatz verdammt billig abgegeben.«

»Vielen Dank für diese kleine Einführung, aber sag mir bitte mal, was es im Klartext heißt, wenn du hier mit zehn Millionen in bar und dem ganzen Koks in die Szene gehst.«

»Das heißt auf Deutsch: Ich kann damit jeden Konkurrenten ausschalten und seinen Stoff und seine Kundschaft übernehmen. Ich brauche nur eine Bande rüder Vögel zu engagieren, die genug Terror macht. Das ist alles.«

»Sehe ich das richtig, dass in den neuen Bundesländern die Dealer alle Zeit der Welt haben, im Gegensatz zu Justiz und Bullen?«

»Ja. Die Idee von White und Thelen war nicht ohne. Sie schlagen sozusagen mindestens ein Dutzend Fliegen mit einer Klappe.«

Irgendwo klingelte ein Telefon, Sundern stand auf und verschwand. Nach wenigen Sekunden kam er zurück und sagte: »Endspurt. White und Thelen sind in Berlin.«

»Das ist gut, ich will sie treffen«, sagte Grau. »Meine Kollegin Helga Friese: Wir brauchen sie jetzt hier. Und Pedra soll die Leiche rausrücken.«

»Das wird aber ganz schön makaber.« Sundern grinste unsicher.

»Das soll es auch«, sagte Grau. »In welchem Hotel sind White und Thelen jetzt?«

»In dem, wo alles anfing«, sagte Sundern trocken. »Geronimo kann dich fahren.«

»Ich brauche Milan«, forderte Grau. »Was glaubst du: Wovor hat White am meisten Angst?«

»Nur davor, sich zu blamieren. Und die Blamage werden wir ihm besorgen.«

»Dann denk dir mal was aus.« Grau ging hinaus und ließ sich von Geronimo, der wie ein Geist aufgetaucht war, Milans Zimmer zeigen.

»Och nee!«, schrie Sigrid, als Grau klopfte.

»Milan«, sagte er, »wir müssen mal kurz weg. Mach dich schön.«

»Kein Verständnis für Liebe!«, knurrte Sigrid.

Geronimo fuhr sie, und außer Graus kurzer Bemerkung, White und Thelen wären in der Stadt, fiel kein einziges Wort. Es gab nichts mehr zu bereden. Am Empfang sagte man ihnen, zwei Herren namens White und Thelen wären weder im Hause noch angemeldet.

»Ach so«, sagte Grau ungeduldig. »Ich brauche also die beiden Herren, die mit der Maschine aus Bonn gekommen sind. Mit der Abendmaschine. Falls Ihnen bei diesem Stichwort auch nichts einfällt, kann ich mich ja mal an Ihren Chefportier wenden. Der kennt mich nämlich gut.«

»Das dürften die Herren Miller und Schramm sein. Das sind die Zimmer 410 und 411. Hier steht ein Telefon.«

»Danke«, sagte Grau und wählte 410. »Ich bin es, Grau. Kann ich Sie sprechen?«

»Selbstverständlich«, sagte White verbindlich. »Wieso kennen Sie meinen Arbeitsnamen?«

»Habe ich geraten«, konterte Grau.

Sie nahmen den Lift und wurden von White vor seinem Zimmer erwartet.

Er drückte Grau die Hand und sagte: »Verdammt gute Arbeit, Grau.«

»Das ist ein Freund«, sagte Grau. »Herr Sarajevo.«

»Freut mich.« White gab auch Milan die Hand. »Kommen Sie herein. Whiskey oder Kaffee?«

»Gar nichts«, sagte Grau. Er steuerte auf Thelen zu und begrüßte ihn. »Haben Sie nun den Zaster und das Koks? Oder White?«

»Aber, aber«, sagte White glucksend, und Thelen war wie immer sichtlich empört, sagte aber nichts. Sie setzten sich, White hockte auf seinem Bett.

»Wir haben gehört, dass Sie mit Herrn Sarajevo – war das der Name? – einen kurzen Abstecher ins schöne Kolumbien gemacht haben.«

»Das ist richtig. Wir mussten dort eine Kleinigkeit erledigen. Warum haben Sie mich eigentlich so scheußlich missbraucht?«

White war amüsiert. »Habe ich das?«

Grau nickte. »Sagen wir mal, fünfzig Prozent von dem, was Sie erzählt haben, war gelogen. Und ich habe gedacht, ich wäre Ihnen wirklich sympathisch.«

»Oh, das sind Sie doch auch!«, versicherte Thelen. »Aber die Umstände des Falles hier in Berlin waren, sagen wir mal, diffus.«

»Warum sind Sie eigentlich nicht in der Politik?«, fragte Grau herausfordernd. »Ihre Sprache bräuchten Sie nur noch inhaltlich anzupassen. White, Sie sind hinter Sundern her, nicht wahr?«

White nickte. »Sind wir in der Tat. Er wäscht Gelder, er kontrolliert den Markt, er weiß alles, er hat Einfluss. Er muss weg, Grau. Und Sie sind seinem Charme erlegen.«

»Erstaunlich, dass Sie das so einfach zugeben.«

White schüttelte leicht den Kopf. »Was gibt’s da zu staunen, Grau? Sie haben die Zielrichtung begriffen, und da ist gar nichts abzustreiten.«

»Aber der Mann hat nichts damit zu tun«, behauptete Grau.

»Sind Sie sicher?« Thelen sah ihn erstaunt an und lächelte dazu wie jemand, der sagen würde: Du hast doch keine Ahnung, mein Freund.

»Ich kann Ihnen Steebens Leiche liefern«, sagte Grau leichthin.

Es war eine Weile sehr still. White reagierte überhaupt nicht, Thelen wurde unruhig und ließ seine Finger nacheinander auf der Sessellehne herumspazieren.

»Dann liefern Sie sie mir«, forderte White. »Irgendeine Bedingung?«

»Ja. Ich will mein Geld.«

»Das geht klar«, sagte White.

»Jetzt«, sagte Grau. »Nicht morgen, nicht übermorgen. Jetzt.«

»Ich trage nicht so viel mit mir herum.«

»Irgendwo in der Stadt haben Sie zehn Millionen«, sagte Grau.

»Habe ich nicht«, widersprach White.

»Möglicherweise nicht Sie. Aber Sie wissen, wer es hat. Also, was ist, White?«

White sah Thelen kurz an und nickte dann. »Und die Leiche kriegen wir?«

»Garantiert«, versprach Grau. »Meine Kontonummer kennen Sie ja.«

»Kenne ich«, sagte White. »Kann ich telefonieren? Was dagegen?«

»Es ist Ihr Telefon.« Grau lächelte.

White nahm den Hörer und Grau passte auf, ob er tatsächlich die Nummer der Botschaft in Godesberg wählte. Er sagte sehr trocken, man möge Grau das Resthonorar auf seine Bank überweisen, die Kontonummer läge vor. »Damit ist Ihr Job zu Ende.« Jetzt lächelte auch White.

»Das weiß ich nicht so genau«, sagte Grau. »Man erzählt sich, dass Gretzki und Davidoff unterwegs nach Berlin sind.«

»Sieh mal einer an«, sagte Thelen beglückt. »Die stehen auf den Fahndungslisten von Interpol. Das geht ja viel glatter, als wir dachten.«

»Ich will keine Verbindung mehr zu Ihnen«, sagte Grau. »Übrigens schönen Gruß von meiner Tochter.«

»Wie?« Das kam sehr schroff. White war blass und erregt.

»Schönen Gruß von Eichhörnchen. Das ist die, die vor Jahren elend krepiert ist. Herr Thelen, was würden Sie denn von einem Vaterunser für meine Tochter halten?«

»Das ist geschmacklos!«, zischte Thelen.

»Durchaus. Ich passe mich Ihnen an. Milan, komm.« Sie gingen hinaus.

»Du warst gut«, sagte Milan. »Du wolltest sie unsicher machen. Und jetzt?«

»Jetzt wieder heimwärts. Ich will ihnen die Leiche liefern. Ich muss sie doch in Bewegung halten.«

Sundern hatte es tatsächlich fertiggebracht, Helga Friese aufzutreiben. Sie hockte mit vor Aufregung glühendem Gesicht in Mehmets Wohnzimmer. Als Grau hereinkam, sprang sie auf und fiel ihm theatralisch um den Hals.

Meike sagte im Hintergrund: »Oh, wow!«

»Du hast mir die beste Geschichte meines Lebens geliefert«, zwängte Helga Friese zwischen kurzen, aufgeregten Atemstößen heraus. »Was Herr Sundern hier sagt, klingt doch völlig verrückt.«

»Kannst du am frühen Morgen eine Leiche für mich filmen?«, fragte Grau.

»Klar, kann ich. Wann? Wo?«

»Wir sollten uns einen hübschen Platz aussuchen.«

»Vielleicht im Zoologischen Garten«, schlug Sundern eifrig vor.

»Nein, nein, es sollte belebter sein, nicht nur müde Affen und faulenzende Bären. Richtige Menschen. Sagen wir: um sechs Uhr? Kannst du bitte mit einem Kameramann kommen und selbst den Ton machen? Möglichst wenig Leute, auf keinen Fall ein Riesenteam. Geht das?«

»Das geht alles, Grau.«

»Gut. Dann sechs Uhr, Mehringplatz. Du musst diese beiden Fotos einbauen. Sie zeigen einmal einen Mann namens White vom US-Geheimdienst gegen Drogen und dann einen gewissen Thelen vom Bundesnachrichtendienst. Es geht das Gerücht, dass die beiden die gesamte Lawine losgetreten haben, alles Nähere dazu von Sundern. Du musst auch versuchen, sie im Hotel um ein Interview anzugehen. Spiel die Naive und mach in dieser Rolle richtig Druck. Alles paletti?«

»Und wie.« Sie strahlte. »Mein Macker schäumt schon vor Eifersucht.«

»Wir haben noch eine Nachricht für dich«, sagte Mehmet aus dem Hintergrund. »Gretzki und Davidoff sind beide in der Stadt. Sie sind natürlich nicht mit dem Flugzeug gekommen, sondern irgendwie anders. Jedenfalls sind sie hier. Die Gruppen, die mit ihnen zusammenarbeiten, haben schon völlig hektische Konferenzen abgehalten.«

»Gibt es von den beiden eigentlich Fotos?«, fragte Grau.

»Selbstverständlich«, sagte Sundern. »Der stern hat welche, der Spiegel auch.«

»Helga, dann musst du diese Fotos besorgen. Die gehören mit zu deiner Geschichte.«

»Mach ich, Grau.«

»Na gut. Jetzt würde ich gern zwei, drei Stunden ausspannen.«

Lächelnd ging er mit Meike in sein Zimmer, er fühlte sich gut, und er zog sie so gemächlich aus, dass sie sagte: »Das musst du noch üben, Grau, das musst du noch üben.«

Der Mehringplatz ist nahezu kreisrund, sieht man davon ab, dass die Südseite von der U-Bahn-Station angeschnitten wird. Sundern hatte den alten Pedra angerufen und um Steebens Leiche gebeten.

Grau postierte Helga Friese und den Kameramann genau dort, wo die Friedrichstraße auf den Mehringplatz mündet. Dem Kameramann sagte er, er möge sein Teleobjektiv bemühen und sich bei Regieanweisungen zurückhalten. »Achten Sie auf die Ausfahrt dort. Das sind achtzig Meter, reicht das?«

»Das reicht, um jedes Streichholz klar heranzuholen«, behauptete der Mann.

»Okay. Punkt sechs geht es los. Helga, ihr filmt, aber geht nicht zu nah ran. Ich arrangiere es so, dass ihr alles zu sehen kriegt. Es ist die Einfahrt zum Altenheim, und das hat einen Hausmeister. Alles klar? Also: Filmen, einpacken, abhauen. Nicht hingehen. Ich sorge dafür, dass Ihr verdammt viele gute Bildchen bekommt.«

Er selbst postierte sich mit Milan etwa in der Mitte zwischen Helgas Team und dem Altenheim.

Um Punkt sechs Uhr – der Verkehr war erheblich dichter geworden, die ersten Pendler frequentierten die U-Bahn – rollte ein riesiger Müllcontainer scheppernd aus der Ausfahrt des Altenheimes bis an den Rand des Gehsteiges. Geschoben wurde er von einem Mann im blauen Arbeitskittel.

»Das ist der Hausmeister«, sagte Grau. »Er hat noch keine Ahnung, aber das wird sich schnell ändern!«

Ein junger Mann mit Aktentasche verlangsamte genau auf Höhe des Containers seine Schritte, tippte dann dem Hausmeister auf die Schulter und sagte etwas.

»Er erklärt ihm, dass heute kein Müllauto kommt«, kommentierte Grau. »Der Arme ist ganz verwirrt. Und jetzt! Pass auf, jetzt zeigt er ihm die Hand!«

»Welche Hand?«, fragte Milan.

»Steebens Hand«, antwortete Grau.

Einen Moment lang war die Szene vollkommen starr. Der Hausmeister verharrte wie gebannt vor dem Container, und der junge Mann mit der Aktentasche zeigte scheinbar höchst erschrocken auf den Deckel des etwa mannshohen Containers. Der Hausmeister gestikulierte wild.

»Der denkt jetzt, dass irgendeiner der Altenheimbewohner sich verirrt hat«, erklärte Grau gleichmütig.

Jetzt hebelte der Hausmeister den Deckel hoch und sagte irgendetwas zu dem jungen Mann. Der stellte seine Aktentasche auf den Gehsteig und legte beide Hände zu einem Tritt zusammen. Der Hausmeister stieg hinauf und sah über den Rand in den Container.

Grau musterte den Kameramann, der wie versteinert hinter seinem Sucher stand. »Es klappt«, sagte er dann befriedigt.

Der Hausmeister verschwand im Container. Dann schrie er etwas. Sie hörten seine schrille Stimme, konnten aber nicht verstehen, was er schrie. Dann tauchte sein Oberkörper wieder auf. Er hielt etwas sehr Weißes, etwas sehr Großes fest und versuchte es hochzuhieven. Jetzt konnten sie ihn deutlich hören: »Polizei! Polizei!«

Der junge Mann griff nach seiner Aktentasche und verschwand eiligst. Der Hausmeister stemmte Steebens Körper hoch und winkte einer Frau zu, die etwas zögernd auf ihn zuging und wahrscheinlich vollkommen verblüfft fragte, was er denn am frühen Morgen in einem Müllcontainer zu suchen habe. Dann sah sie den Körper auch und schrie. Der Hausmeister brüllte etwas dagegen. Die Frau war den Bruchteil einer Sekunde lang ganz starr und lief dann zu einer Telefonzelle.

»Das ist prima«, sagte Milan vergnügt. »Das ist echt klasse. Sieh mal, wie fleißig der Kameramann dreht. Und die Helga ist so aufgeregt, dass sie nicht mehr stillstehen kann. Du bist ein Sausack, Grau!«

»Ich bin nur die Speerspitze der Bürgervertretung, die dem White die Show versaut«, sagte Grau.

Der Hausmeister mühte sich ab, die Leiche über den Rand des Containers zu wuchten. Anscheinend war sie ihm zu schwer, denn er schnaufte verzweifelt und sein Gesicht schwoll vor Angstrengung an.

Dann raste das erste Polizeifahrzeug mit Blaulicht und lauter Sirene heran und bremste neben dem Container auf dem Gehsteig. Schnell nacheinander folgten drei weitere Streifenwagen, dann zwei zivile Fahrzeuge.

»Lasst uns gehen«, sagte Grau. »Es wird langsam langweilig.«

»Ich würde Sigrid gern einen Mantel und ein Kleid kaufen«, sagte Milan gut gelaunt. »Vielleicht auch Schuhe. Sie hat es sich gewünscht und ich habe doch jetzt viel Geld. Was hältst du davon, wenn ich ihr eine Uhr kaufe und in den Boden meinen Namen eingraviere?«

»Das ist toll«, sagte Grau. »Lass dir Quittungen geben, ich kann die absetzen. Die sollen Arbeitskleidung draufschreiben, die Amerikaner sind da etwas pingelig.« Er betrachtete noch einmal nachdenklich die Szene um den Container und murmelte dann: »Der Adler ist gelandet.«